Marktrealismus

Êóïðèÿíîâ Âÿ÷åñëàâ
Wjatscheslaw Kuprijanow
Marktrealismus

Die Literatur hatte immer einen Auftraggeber, der ihren Inhalt und folglich auch ihren Stil beeinflußte. Als Auftraggeber und im wesentlichen auch Schöpfer der großen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts fungierte der Adelsstand, und wenn wir die Größe dieser Literatur anerkennen, ist es nur billig, dem Adelsstand einen gewissen Geschmack und eine gewisse Intelligenz zuzuerkennen. Literatur wurde von vermögenden Menschen geschrieben und gelesen, und das Auftauchen nichtadliger Intellektueller in der Kultur zeugte nur von dem ansteckenden Einfluß der literarischen Arbeit und des literarischen Denkens auf die neuen Stände. Auch andere Klassen konnten sich also Literatur leisten, wenngleich das Volk sich in erster Linie mit dem Evangelium begnügte und es nicht auf Russisch, sondern Kirchenslawisch las, wovon es freilich alles andere als „schlechter“ wurde.
Das 20. Jahrhundert mit seiner sozialistischen Revolution kippte die kulturtragenden Schichten um, als es den Adelsstand und die Geistlichkeit unterpflügte, doch die Literatur als Mittel der kulturellen Selbsterkenntnis hielt sich in der Tradition als Klassik und entwickelte sich zur Avantgarde weiter. Der weitverbreitete Analphabetismus wurde beseitigt, eine Voraussetzung dafür, daß die Lektüre schöngeistiger Kultur für die Staatsideologie von Nutzen sein konnte. So erfand man den sozialistischen Realismus. Die Schicht der kirchenslawischen Kultur war so gut wie verschüttet, was das Volk in moralischer Hinsicht für den erbitterten Kampf mit den „Volksfeinden“ bereit machte. Die weltliche, sprich sowjetische Literatur wurde vom Staat als Vermittler der Ideologie unterstützt, die herrschende kommunistische Partei trat als Auftraggeber in Erscheinung, und das Volk las und finanzierte sie.
Wir hätten die Periode der nichtauthentischen Lebensweise im Zeichen der Utopie des Sozrealismus nicht ohne die Hilfe des utopischen Sozrealismus durchgestanden. Können wir beim momentanen Übergang in die Epoche einer noch weniger authentischen Lebensweise darauf hoffen, daß ausgerechnet jetzt eine authentische Kultur und eine authentische Belletristik erstehen? Wer hätte denn Bedarf für sie? Das Volk? Doch das Volk hüllt sich in Schweigen. Die Elite? Doch die, sollte sie sich denn bei uns überhaupt entwickelt haben, pflegt eine Sprache zum Weghören, und ihr größtes kulturelles Verdienst besteht in der Legalisierung der Mutterflüche, also des Ganovenjargons oder im individuellen Bereich des Jargons der Versöhnler der Halbwelt. (Vergleiche das ewige Phänomen der russischen Kindheit: Nicht alle Kinder sind Rowdies, aber alle ordnen sich der Diktatur der Rowdies unter und eignen sich begierig die Mutterflüche an.)
Es wäre lachhaft zu glauben, die neuen Herren, deren wesentlicher Lebensantrieb ein räuberischer und unverschämter Sinn für Gier und Neid ist, würden für sich irgendeine hochwertige Kultur in Auftrag geben. Die seriöse Belletristik in den sogenannten zivilisierten Ländern des Westens stand immer in Opposition zur Massenkultur des übersättigten Bourgeois. Was hatten wir uns da nur vorgestellt?
Die Wende, die als Umbau, als „Perestrojka“, begonnen hatte, veränderte die Kräfterelationen in der Kultur, indem sie zum einen die Literatur als Ideologie abschaffte, zum andern ihren Auftraggeber (die Ideologie oder den Zensor) beseitigte und schließlich sowohl den Konsumenten als auch den Produzenten in eine Sackgasse führte. In Mode kamen entweder Autoren, die auf den bereits nicht mehr existenten Auftraggeber, den Ideologen (der sich ohnehin längst zum Unternehmer gewendet hatte) eindroschen, oder ihr Mütchen am Zensor, einschließlich dem persönlichen, inneren (literarisches Rowdytum mit schleichendem Übergang ins Nichtliterarische) kühlten.
Folglich wurde die Literatur vom Staat wie vom Volk getrennt. Dieser Umstand fand seinen Niederschlag bereits im Rentengesetz: Just mit dem Jahr 1991 endet die offizielle Anerkennung der Arbeitsjahre, die Bestätigung über die Mitgliedschaft im Schriftstellerverband besitzt nur noch bis zu diesem Jahr Gültigkeit. Von da an wird ein Vertrag, d. h. ein Auftrag, gefordert, obwohl klar ist, daß einem niemand je den Auftrag für einen „Propheten“  mit seinem unstillbaren Verlangen nach Geistigem oder für den einen oder anderen „wunderbaren Augenblick“  gibt.
Die neue Literatur ist schwerlich der Belletristik zuzurechnen. Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre holte man nach Kräften das Versäumte nach, sprich jene Massenkultur, mit der sich der Westen die Zeit vertrieb. Krimis wurden übersetzt. Die Pornographie verlor ihren illegalen Status. Die sozialwissenschaftliche Science Fiktion verschwand hinter kosmischem Schlachtengetümmel. In der Voraussicht, den Weg zur neuen, lichten, kapitalistischen Zukunft würden auch einige Schrecken kreuzen, begann man, dem Leser Horror und Alpträume zu servieren. Dazu im Kontrast stehen sollten die alles besiegende Liebe und die unendlichen modernen Variationen von Aschenputtel, verfaßt von ihren ebenso unsterblichen wie unbegabten Schwestern. Ins Russische übertragen wurde diese ganze Trivialität auf die Schnelle von billigen Übersetzern.   
Zur Ehrenrettung der Muse der Prosa sei gesagt, daß in dieser Dämmerung schon bald russische Leuchtfeuer verschiedener Helligkeitsgrade aufblitzten. Der ausländische Krimi machte Platz für den einheimischen, wo genau dieselben gewöhnlichen Morde passieren, allerdings bereits unter uns vertrauten Umständen. Diese Art von Literatur „informierte“ den Durchschnittsleser neben allem sonstigen über die tatsächlichen Herren des Lebens oder, dem Klischee der Massenmedien entsprechend, über die „Korruption in den höchsten Etagen der Behörden“. Doch wie das Leben, so auch die das Leben abbildende Literatur. Der Schriftsteller W. Rosow meint dazu: „(…) die Situation beurteile ich als dramatisch. Verbrechen massenhaft, Morde. Die Jugend ist aggressiv, eine schreckliche Sache (…) Dabei kann man es drehen und wenden wie man will, ihr gehört die Zukunft“ („Literaturnaja gaseta“, 6, 2002).
Hier würde ich gern versuchen, einige Parallelen zwischen unserer noch nicht in Form gegossenen Gesellschaft und den ausdifferenzierten Verhältnissen im Westen zu ziehen.
Hier wie dort liest und sieht man hauptsächlich Krimis. Allerdings gibt es nirgendwo auf der Welt eine solche Gewaltverherrlichung in den Krimis, eine derartige Kriminalschundliteratur wie in Rußland. Es ist auch sonst nirgends oder nur recht vereinzelt eine Tendenz zu erkennen, wo der Verbrecher, der Kriminelle, der Killer als betont positiver Held auftritt, wie das bei uns allenthalben passiert, besonders im Kino (der Auftragsmörder tötet nicht nur Menschen, die ihm „gleichgültig“ sind, sondern auch ausgesprochen „schlechte“, um sodann nach Israel zu entschwinden, wo er offenbar wieder zum guten Menschen wird), wobei das Kino ja immer auf ein literarisches Drehbuch, d. h. auf Literatur aufbaut.
Es gerinnt die Meinung nachgerade zur Weltanschauung, als ob die Lebenswirklichkeit nichts als Kriminalität sei, ein einziger Kampf von Verbrecherbanden oder Gaunern um jene Wohltaten, die von einem weiteren Genre, der Werbung, massiert feilgeboten werden. Sie fügt sich in den Thriller oder Horrorfilm wie ein organischer Teil davon ein. „Nimm dir alles vom Leben!“ fordert Coca-Cola auf, und der Radio-Sender „Echo Moskaus“ setzt noch eins drauf: „Erlaub dir ruhig etwas zu viel!“. „Es gibt Dinge, deretwillen es zu leben lohnt“, propagiert eine Brauerei. Daß Liebe zur Ware zu werden habe, bekräftigt die Plakatwerbung für Schmuck: „Liebst du mich? Dann beweise es!“ (will sagen, zahle!). In diesen Kontext eines modernen Wertesystems paßt gut das neue „Gebot“ des „religiösen Menschen“ B. Beresowskij: „Intellekt plus Geld vermögen alles“ („Mir nowostej“, Nr. 31, 30.07.02). Und deshalb wird ein Wesen, das offenbar mit Batteriebetrieb funktioniert, drohend aufgefordert „Lade dein Gehirn auf!“ und muß sich noch den flegelhaften Zusatz gefallen lassen: „Wenn du denn eins hast“. Man mag mir erwidern, all das könne nur jemanden auf die Palme bringen, der an Humorlosigkeit leide, aber es weiß doch noch das letzte Kamel, daß sogar ein gelungener Scherz, wenn er mehr als einmal wiederholt wird, zunächst Unverständnis und später eine zunehmende Aversion weckt.
Es ist ja gerade das Gefühl für Humor, das in erster Linie beim Betrachter von Werbung eine Dystrophie erleidet (schon immer hat mich der schwach entwickelte Sinn für Humor beim westlichen Otto Normalverbraucher, der mit Werbung großgezogen wurde, erstaunt). Die Vorstellung eines Konsumenten einer solchen Vergnügungskultur schwankt zwischen dem Ziel, der Wahl eines „paradiesischen Genusses“, wie ihn die Werbung (vom Kaugummi bis zur Villa am Mittelmeer) propagiert und dem Mittel der Erlangung dieses Genusses (vom kleinen Diebstahl zum großangelegten Betrug und, falls nötig, bis zum Mord). An die Mittel im Geiste der pharisäisch-jesuitischen Moral erinnerte uns jener B. Beresowskij, als er dem verunglückten Gouverneur A. Lebjed folgende positive Eigenschaft zuschrieb: „sehr wahrhaftig in seinen Vorstellungen, hielt er gleichzeitig dafür, daß bei der richtigen Zielsetzung alle Mittel angewandt werden dürfen“ („Mir nowostej“, Nr. 31). Die Bolschewisten (und da waren sie nicht die ersten) haben sich bei der Umsetzung dieser Art von Moral die Finger verbrannt, aber was soll man machen, wenn die Ziele der heutigen Bolschewisten nicht mehr auf das Gemeinwohl, sondern auf den persönliche Vorteil gerichtet sind – unter Beibehaltung der alten Methoden?!
Ihre Wirkung erzielt die Werbung durch die Anpreisung eines Produkts mittels eines Objekts, das dem Sinn nach wenig oder gar nichts mit der „Gestalt“ des Produkts zu tun hat (der weibliche Körper kann Stellvertretersymbol von allem möglichen werden, von Erfrischungsgetränken bis Waschpulver) und die Möglichkeit nutzt, in der Wahrnehmung des Fernsehzuschauers von heute und überhaupt eines jeden Konsumenten von Massenmedien eine Toleranzreaktion hervorzurufen (der Zuschauer „nimmt es als gegeben hin“), geeignet, eine nachgerade gesetzmäßige Leidenschaft für die am häufigsten wiederholten „Klischees“, „Sujets“ und „Schlüsselbegriffe“ zu entwickeln. Hierzu gehören sowohl Gewaltszenen als auch das Interesse an Rauschgift (bedeutungslos dabei, daß es scheinbar um den Kampf gegen Rauschgift geht, wichtig nur, daß dieser „Kampf“ ein überaus häufig wiederkehrendes „Sujet“ ist), an abnormem Sex als Spielart der Norm und schließlich an Mord als gewöhnlichem und ganz unbedeutendem Fakt (von Bedeutung ist allein die Fahndung, die eher Mitgefühl mit dem noch Flüchtigen bewirkt, während der „Faktor Leiche“ selbst schon vergessen ist). Alle Filme über die Mafia zeichnen diese dank ihrer geheimnisvollen und unüberwindlichen Macht eher attraktiv denn abstoßend. Dieser Effekt befördert so oder so die Kriminalisierung der Gesellschaft, die Legalisierung des Verbrechens. Dies verhält sich nur für den Fall anders, daß der Konsument von all dem Zeug – schließlich ist er der Auftraggeber – selbst zum kriminellen Milieu gehört, das darin seine Unterhaltung findet. Gar nicht zu reden von der „Lied-kunst“ („Einer von uns“ u. ä. oder vom Humor einer Gruppe wie „Lesopowal“, „Die Holzhacker“).
Von dem bereits erwähnten prominenten in Ungnade gefallenen Oligarchen-Intellektuellen  stammt der Ausspruch: „Das Kapital dingt sich die Staatsmacht.“ Da bei uns das Kapital noch immer als kriminell erworben gilt, bedeutet dies, daß das Verbrechen die Staatsmacht dingt. Diese, wenn auch gedungen, verfügt über recht geringe Finanzmittel zur Unterstützung der Kultur, und noch weniger zeigt sie sich gewillt und verständig genug zu entscheiden, welche Art von Kultur einer nachhaltigen Unterstützung bedürfe. Man kann also nur davon ausgehen, daß die herrenlose Kultur bei uns von Kriminellen in Auftrag gegeben wird. Auf die Serienmorde folgt eine Serien-, d. h. Auftragsliteratur. Und das Kriminelle bleibt schon per se im Schatten und geht dort seinem Gewerbe nach. Die Situation erinnert an ein liberales Schulmodel, wo die Schüler dem Lehrer diktieren, was er ihnen zu unterrichten habe. Und so wird postuliert, den Lesern stehe der Sinn vor allem nach Krimis als natürliches Spiegelbild des uns allenthalben belauernden Lebens. Harte Männer, heißt es, wollten harte Krimis mit einem Maximum an Gewalt, gespickt mit Mutterflüchen (gar nicht so sehr in Form von Kraftausdrücken, sondern als eine Form der Rede), die Frauen (Damen) seien den eher soften Varianten zugeneigt, für die Autoren mit Damennamen schreiben. Für Menschen mit einer schweren Kindheit, ausgelöst durch das Studium gewisser Wissenschaften, gebe es den intellektuellen Krimi im Angebot, wo sowohl Opfer als auch Verbrecher intelligente Menschen seien. Doch für diese wie für jene schimmert nur eine einzige Spielart der Außenwelt durch: Das Leben besteht aus lauter Verbrechen, und wenn diese dann gar noch aufgedeckt werden, ist das Kunst und nicht die Wirklichkeit. Mehr noch: Eine bestimmte Aufdeckungsrate in der Kunst macht gewissermaßen die Verbrechensbekämpfung im wirklichen Leben überflüssig. Der Leser ist glücklich, solange er sich noch lebendig fühlt. 
Der Krimi zeigt sich doppelt nützlich (schädlich): Das Verbrechen in der Kunst spielt eine unterhaltende Rolle und leistet gleichzeitig eine „informationell-kulturelle“ Unterstützung des Verbrechens in der Wirklichkeit.

Einen krimifreien Raum nimmt der Liebesroman ein, das Lesefutter für Damen, die im Leben Pech mit der Liebe hatten. Davon gibt es bei uns viele. Die von der Übergangsperiode vom Verteilungssozialismus zum Raubritterkapitalismus Betrogenen sind von der Liebe enttäuscht: Niemand liebt die Armen. Und die Reichen können nie genug bekommen. In diesen Romanen erhalten sie ihr Quantum an Kompensation in Form einer Aufnahme in die feine Gesellschaft, gekleidet in der entsprechenden Toilette, eines sanften Flirts mit einem vielbeschäftigten Mann, worauf der schwere, von Betten gesäumte Weg zur Eheschließung mit einem Millionär oder schlimmstenfalls einfach mit einem anständigen Mann folgt.
Der Liebesroman ist doppelt nützlich (schädlich): Als Zeitvertreib nimmt er den Platz der kultivierten Lektüre ein und führt gleichzeitig fort von den schwierigen Liebesbeziehungen im wirklichen Leben.
Wo liegt hier die Verbindung zum Kriminellen? Diese Literatur lesen potentielle Opfer. Diese Literatur ist darauf abgestellt, einen einfachen Menschen noch gar zum Simpel zu machen. Der Leser wird darauf eingestellt, die Liebe als etwas zu verstehen, das sich vor allem als wunderliches Phänomen eines angestauten Hormonalsystems statt als Medium zur Welterkenntnis erweist. Deshalb kann auch die Liebe als Liste aufgelegt werden, wie eine Speisekarte, wie ein Fahrplan. Deshalb kann man sie auch „machen“, wie man die Wäsche macht, den Müll hinausträgt, den Garten umgräbt. Doch damit das auch unterhaltsam vonstatten gehe, muß sich die Frau dabei wie eine Waschmaschine und der Mann als Traktor gebärden.
Über die Manipulation durch das Masseninteresse schrieb in der Sowjetzeit (ohne freilich gedruckt zu werden) der Philosoph Jakow Golosowker: „Die Presse will sich interessant machen, und da sie weiß, daß das Interessanteste der Skandal ist, hat sich die Presse die Kunst zueigen gemacht, aus jedem Büschel Stroh oder jedem Funken, den die Hufe des Lebens schlagen, einen Weltenbrand zu entfachen, damit es interessant werde. Der Presse ist es gleichgültig, daß die Menschheit für dieses Skandalöse als etwas von Interesse mit den höchsten Werten des Geistes bezahlen muß, nämlich mit dem Wesen der Kultur, denn das Skandalöse-als-Interessantes führt am Ende immer zum Mord am Geist, zum Triumph des Zynismus und zur Apotheose der Unehrenhaftigkeit und der Unmenschlichkeit, zur Entwicklung einer kriminellen (Hervorhebung durch mich, W. K.) Phantasie zu Lasten eines imaginativen Geistes, d. h. eines Geistes, der offen ist für Inspirationen…“
„Und hier kommt es zur Tragödie: Der Massenleser weiß nicht, daß die Herrschaft der Ruhmsucht des Skandals in uns unseren höchsten Instinkt, den Kulturinstinkt, unterdrückt.“ Ersetzt man das Wort „Presse“ durch „Literatur“, erkennt man deren zeitgenössischen Zustand. Das Akademiemitglied J. Roschdestwenskij widmete in seiner „Theorie der Rhetorik“ den massenhaften Praktiken des Sprachgebrauchs, die heutigentags in der Kultur den Ton angeben, besondere Aufmerksamkeit: „Die sprachliche Gewalt, geschaffen von den Interessensverbänden, die Sprache produzieren, hat jetzt so überhand genommen, daß deren Überzeugung, sie könnten mit Otto Normalverbraucher machen, was sie wollten, die letzten Grenzen des Zynismus erreicht hat.“
All dies kommt bei der allgegenwärtigen Versuchung zusammen, die in der Literatur an die Stelle der Parteilichkeit getreten ist. Die Versuchung allein schon der Möglichkeit zu morden (Krimi), die Versuchung, sich auf Kosten einer simplifizierten Liebe zu bereichern (in Liebesromanen verliebt sich schließlich niemand in arme Schlucker oder Sonderlinge). Die Versuchung zu lügen (mit verlogenen Werten). Das Unterhaltsame ist verführerisch, kostet es doch Geld, und wer mit dem Unterhaltsamen handelt, ist zu jeder Täuschung bereit. Eine Gesellschaft, die dem Konsumenten die Freiheit schenkt, kann das leichtsinnige Individuum nur mahnend auf die Gefahren seiner freien Auswahl hinweisen. Das augenfälligste Beispiel einer ehrenhaften aber wenig erfolgreichen Mahnung ist die Aufschrift auf den Zigarettenschachteln: „Das Gesundheitsministerium warnt: Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit!“ Doch dieser Warnhinweis kommt wohl kaum gegen das eindrucksvolle Bild RUSSKIJ MASSCHTAB an. Auf dem Plakat sind die Riesenskulpturen von den Osterinseln zu sehen, wie sie russische Zigaretten der Marke PRIMA rauchen. 90% der Massenliteratur müßte man mit einem ähnlich wohlmeinenden Warnhinweis versehen: Bei Lektüre dieses Schunds droht Verblödung! Doch die grelle Aufmachung der Packung übertrumpft sowieso alles, und selbst wenn auf der Zigarettenschachtel in Großbuchstaben geschrieben stünde, daß Rauchen gefährlich sei, und klein gedruckt der Name der Marke, würde das keinen Einfluß auf die Leidenschaft des Rauchers, nach der Zigarette zu greifen, haben. Ebenso wird der Mord als Mittel der Entspannung für den müden Intellekt noch lange jede kulturelle Anstrengung ersetzen.
Welche Art von Literatur wird nun von den Mechanismen des kriminellen Marktes abgewürgt?
Zu allererst die Lyrik als traditionelles Herzstück der Wortkultur. In der Morgendämmerung des entwickelten Sozialismus gab der Optimist Boris Pasternak dem damals noch jungen Autor Jurij Pankratow folgendes mit auf den Weg: „Ihre Zeit wird kommen und wahrscheinlich schon bald, diese neue Zeit, die sich mit großen Anfragen an die Person, an das ganz Individuelle, an den wahren Gedanken wenden wird…“ Doch die Zeit wollte es anders und bereitete dem Menschen nur einen einzigen Weg: den zum Basar und wieder zurück vom Basar. 1988 machte der Philosoph Merab Mamardaschwili eine genauere Vorhersage als der Dichter: „Mein Auge wird, solange ich noch lebe, nichts Schönes mehr sehen, mein Ohr wird keine freie Sprache, keine spontan freie mehr hören. (…) Denn das, was wir unmittelbar auf der Straße, im Geschäft, um uns her zu hören bekommen, ist nichts als eine Krebsgeschwulst. Von der Psyche der Menschen gar nicht zu reden…“ Indem es nicht gelang, eine reale Marktwirtschaft (keine kriminelle) zu schaffen, pfropfte man den Menschen eine Marktsprache auf, die auf die den „Markt“ bedienende Literatur übergegriffen hat. „Die Götzen des Marktes“ (F. Bacon) sind zum Angriff übergegangen.
Die Lyrik hingegen kommt nicht aus ohne metaphorisches Denken. Man muß etwas im übertragenen Sinne verstehen. Das heißt, man muß sich von den Wörtern lösen und der Einbildungskraft und der Phantasie Raum geben können. Das gehört nicht mehr zur Bildungsnorm des neuen Menschen, des Soldaten des Marktes, des Götzendieners des Marktes. Er könnte ja sonst auch die Werbung metaphorisch zu verstehen beginnen und sie einer Geschmackskritik unterziehen, statt stante pede loszupesen, um sich etwas zu kaufen, das er meist gar nicht braucht. Die Schule orientiert sich just in diese Richtung um, in Richtung einer Dehumanisierung, indem sie immer weniger Zeit der Sprache und Literatur widmet, statt das Denken durch den Gebrauch der Sprache zu fördern.
Die Lyrik kann als Indikator des Zustands einer Kultur fungieren. Ist der Mensch von der Konsumgesellschaft aufgesogen, ist er von den Sorgen darum aufgesogen, seinen Platz in der Globalisierungspyramide zu finden, oder ist er frei in seiner geistigen Wahl und verfügt über eine spirituelle Geistesanschauung? Interessiert er sich dafür, was in den höheren Sphären der Sprache passiert?
Neben der Lyrik verdrängt man überhaupt alle Texte höherer Ordnung aus dem geistigen Gesichtsfeld: „Texte, die in konzentrierter Form die Natur der menschlichen Erkenntnis und Tätigkeit zum Ausdruck bringen, lassen sich als Texte höherer Ordnung charakterisieren (im Unterschied zu funktionalen, eng zielgerichteten Texten).“ (J. Siwerzwan-Rejsema, „Philosophie des Planetarismus“, 1995). „Texte höherer Ordnung verkörpern den Verstand der Zivilisation. (…) Ihr Ziel ist die zeichenhafte Unsterblichkeit. (…) Mit der Zeit gewinnen diese Texte an Wert.“ Wenn man sie als Weisheit definiert, dann „ist die Weisheit Poesie“. Natürlich haben Schlüsseltexte dieser Art heute die Imprimatur, wir können die Bibel, den Koran, andere kanonische Werke sowie alle möglichen Apokryphen, esoterische und kabbalistische Literatur kaufen, d. h. den Kanon nebst dem „Pluralismus“, der die Richtigkeit des Kanons negiert.
Hier sollte angemerkt werden, daß es vom Standpunkt ihrer Notwendigkeit für die Entwicklung der Zivilisation als Kultur nie genug kanonische und antikanonischen Texte und überhaupt schwierige Texte, die einer Interpretation und wiederholter Lektüre bedürfen, geben kann.
Wodurch wird nun die Freiheit des künstlerischen Worts seitens des Staates reguliert? Mittels der Steuerpolitik. Sie ist so gestaltet, daß nur die kommerzielle marktkonforme Literatur ein Daseinsrecht genießt. So zeigt sich der Staat einverstanden mit der kriminellen Determinante des Kulturprozesses. Dies bekräftigt ein weiteres Mal die These, daß das Verbrechen die Kultur in Auftrag gibt. Der Begriff „in Auftrag geben“ läßt sich hier auch in seiner kriminellen Bedeutung (Auftragsmord) verstehen, und in der langfristigen Prognose bedeutet dies den Untergang der Kultur und zusammen mir ihr den ihrer Träger (des Volks, des Gemeinwesens). Ob dann überhaupt noch eine Bevölkerung auf dem Niveau einer mündigen Wählerschaft übrig bleibt, darf bezweifelt werden. An dessen Stelle kann nur ein anderes Volk treten, ein zugewandertes, das aber seine Kultur noch nicht verloren hat. 
Die Literatur lebt heute nicht in der Dämmerung, sondern macht Jagd auf den Menschen am hellichten Tag. Dabei spreche ich bewußt nicht von der anderen Literatur mit all ihren unklaren Hierarchien, die wir trotz allem für die echte halten. So schreibt zum Beispiel Anatolij Afanasjew durchaus intelligente, wenn auch nicht die populärsten Krimis, oder Jurij Perow legt einen eleganten erotischen Roman „Das wunderschöne Dickerchen“ vor, während der philosophierende Anatolij Kim esoterische Momente auf das Niveau hoher Kunst erhebt. Timur Sulfikarow schreibt eine Prosa, die kaum von Lyrik zu unterscheiden ist. Es geht weniger ums Genre, als vielmehr um die Wertigkeit des Talents. Doch nicht diese Literatur gibt den Ton an, der die Lektüre als Kunst vernichtet. Die neue Belletristik nimmt in unserer kulturellen Landschaft einen Raum ein, der den Maßen Dänemarks oder Hollands entspricht. Dies eröffnet uns die Perspektive, die tatsächlichen geographischen Umrisse Dänemarks oder Hollands zu erhalten,  alles Übrige schaffen die modernen Nomaden zusammen mit dem herausgepumpten Öl in ferne Länder.
So sehen heute die Auflagen umgerechnete auf den arme Leser in unserer notleidenden Bevölkerung aus. Gäbe man dem potentiellen Leser die Möglichkeit zu verschnaufen, damit er sich die für ihn wünschenswerte Literatur leisten kann, erhielte die Literatur eine Chance auf Wiedergeburt. Doch bisher ist es nicht anders als zu Zeiten der Tyrannei, wo „Der Meister und Margarita“ von Bulgakow und die Antiutopien von Samjatin und Platonow nicht nachgefragt wurden und mit einem Verbot belegt waren. Genauso kann es jetzt der ernstzunehmenden Schicht der Literatur ergehen, nämlich daß sie lange unter dem Verbot des kommerziellen (kriminellen) Diktats stehen wird. Die Literatur des Marktrealismus, gehätschelt von den Massenmedien, verspricht lebensfähiger zu sein als der Sozrealismus. Und das, was man uns als „Aufklärung“ anbietet (wo es doch sogar eine Akademie der Unterhaltung gibt) wird unseren geistigen Blick immer mehr eintrüben.

Übersetzung: Peter Steger, 28. November 2003