Der traeumer ajgi àéãè, deutsch

Êóïðèÿíîâ Âÿ÷åñëàâ
Wjatscheslaw Kuprijanow

Der Traumer Ajgi
oder ein von Slawisten suggerierter MYTHOS

„So sei ich denn unter euch / wie die Staubmunze die da ist / unter knisternden Banknoten / in der glatten Samttasche / wo sie aus voller Kehle klingen moge / doch an nichts anstoßen / um zu klingen“. Diese fruhen Verse von Gennadij Ajgi erinnern an den buddhistischen Koan uber das klanglose Einhandklat-schen, zu uns gekommen aus dem Osten. Bereits hier schlagt der Autor den Weg der Auserwahltheit ein, recht traurig in seiner Einsamkeit: allein mit sich selbst in der eigenen Sparbuchse. Der traditionelle Dichter beschreibt seine Stellung in dieser Welt einfacher: „Ich klopfte auf die Tasche – ohne Klang“ (N. Rubzow). Freilich ist das nicht jene Abwesenheit von Klang, auf die die hellhorigen Slawisten aus dem Westen anspringen.

„Außer Ajgi gibt es in Rußland keine Dichter“, bekam ich vom Ubersetzer Hans Bjorkegren auf der schwedischen Insel Gotland im Jahr 1999 zu horen. Die russische Ubersetzerin prazisiert umgehend, daß Ajgi auf Schwedisch besonders gut klinge. Ich frage verwundert, ob das bedeute, daß die Ubersetzung besser sei als das Original. Wie das denn? Die Ubersetzerin hebt da-rauf zu erklaren an, daß sie Bjorkegren bei der Ubertragung ins Schwedische geholfen habe. Nun wundere ich mich gleich doppelt, denn vor zwei Tagen hatte die gleiche Ubersetzerin zugegeben, die Gedichte Ajgis nicht zu verstehen.

Sowohl in diesem wie in anderen ahnlichen Fallen wird eines offenbar: An das Werk Ajgis hat man zu glauben, ohne den Ver-such zu machen, etwas verstehen zu wollen. Versuche, seinen Verehrern zu widersprechen, wurden gewohnlich nachgerade als Entweihung eines Heiligtums gewertet. Der Ubersetzer Felix Philipp Ingold suggeriert uns: „… sein Gedicht ist ein abso-lutes Geschenk, und ein Geschenk ist eine Frage, selbstgenug-sam, gleich einem unentgeltlichen Geschenk, unaufgefordert und grundlos gemacht… Einem solchen Geschenk kann man nur gerecht werden, wenn man es annimmt in seiner Bedingungslosigkeit, ohne Konditionen, ohne das Streben nach Widerspruch, Recht-fertigung, Erklarung.“ Ist hier die Rede von einem Dichter, dessen „Wort-Geschenk“ Sympathie und Verstandnis fordert, oder von einem Idol, einem Gegenstand des Glaubens? W. Nowikow, „den heute viele fur einen der besten Literaturkritiker Ruß-lands halten (L. Robel, S. 148), setzt noch eins drauf: „Der stille undeklarierte Glaube an die Moglichkeit des Wortes ver-eint alle Ajgijaner (W. Nowikow, L. R., S. 148). Ol ins „hei-lige“ Feuer gießt der Franzose Leon Robel: „Das fast sakrale Symbol laßt… das Bild des Kunstlers und das Bild des Uberna-turlichen Wesens eins werden“ (S. 43). „Fur den Ajgijaner ist Ajgi ein gelungener Hybrid aus Kunstler und Ubernaturlichem Wesen“. Einer ahnlichen Hyperbel begegnet man ansonsten wohl nur noch bei den gelehrten Verehrern von D. Prigow: „Die Lyrik Prigows gleicht jenem Wunder, das die Apostel erlebten, als sie plotzlich in allen Sprachen zu sprechen anhoben.“ (der in Deutschland lehrende Professor Igor Smirnow, Internet, 19. Mai 2001). Was es nicht alles fur Wunder gibt!

Die Sekundarliteratur uber Ajgi druckt sich nicht weniger ge-heimnisvoll aus als das Objekt der Beschreibung selbst. „Ajgi gehort zu der Art Dichter, die nicht danach streben, einen ge-schlossenen Text (ein Gedicht) zu verfassen“, sondern „einen semantischen Raum mit mehr oder weniger definierten Grenzen“ (A. Chusangaj). Und tatsachlich fehlt bei Ajgi gewissermaßen das „abgeschlossene“ Gedicht, die Verszeile an sich, haufig sogar die logische Verbindung zwischen den Wortern, was aber gerade als eine Errungenschaft seiner Stilistik ausgegeben wird. Der tschuwaschische Kritiker definiert diesen verschwim-menden semantischen Raum recht genau. Er sieht ihn angefullt mit Variationen von Orten und „Ortsartigem“ wie „Feld“, „Wald“, „Traum“, „Gott“, wobei nicht immer zu erkennen sei, ob es sich um Substantive oder bereits um Interjektionen handle. „Wenn man Ajgi liest, ertappt man sich standig bei dem Gedan-ken, genau dem schon irgendwo bei ihm und nur bei ihm begegnet zu sein“ (A. Chusangaj). Ob diese Wiederholungen von der „Er-schutterung“ herruhren, die er bei der Lekture von Kierkegaard erfahren haben will? „… Es scheint, Kierkegaard … schreibe in verschiedenen Tonarten stets ein und dasselbe Buch um“, be-merkt der Kierkegaard-Forscher I. Thomson.

W. Nowikow postuliert: „Genau wie in der Wissenschaft gibt es angewandte Lyrik und Grundlagenlyrik“. Der Vergleich hinkt, ist aber notwendig, um die fur traditionelle Poetik uner-reichbaren Texte Ajgis als „Grundlagenlyrik“ zu definieren. Und das fuhrt dazu, daß Ajgi „mehr ist als ein Dichter“. Vor einem solchen Hintergrund entsteht dann das Buchhalterge-schwatz von einer „hundertprozentigen Lyrik“. Die Grundlagen-wissenschaft dient der Entwicklung angewandter Technologien. Versteht man unter „angewandter“ Lyrik (mit dem hinkenden Ver-gleich) die traditionelle Lyrik, sind Ajgis Texte keine Ent-wicklung, sondern eine Einwicklung der Tradition. Ajgi offe-riert die Prinzipien einer andersgearteten Poetik: „Dichtung-als-Schweigen“, „Traum-Flucht-aus-Wachen“, „Traum-Liebe-zu-sich-Selbst“, „Papierchen-wie-in-Lochlein“ und andere verrat-selte Dinge. „Ajgi gestaltete und gestaltet eine Poesie, die immer weniger moglich ist. Irgendwelche ‚Geisterkrafte’ zerren seine Verse in die ‚Kontemplation des Wortlosen’ (A. Chusan-gaj)“ (L. O. 51). Zauberei, freilich andererseits kuhl kalku-lierte: „Bei Ajgi ist jedes Element ausgewogen und zwar bis in die Satzzeichen hinein“ (G. Janecek, USA).

Fur Ajgi ist die großte Autoritat K. Malewitsch mit seiner „absoluten Malerei“. Manche Kritiker vergleichen denn auch Ajgis Poetik mit dem „Schwarzen Quadrat“, die einen, um Ajgi „eins zu versetzen“, die andern (er selbst eingeschlossen) se-hen darin das hochste Lob. Der Sinn des „Schwarzen Quadrats“ (Pathos ohne Logos) liegt aber in der absoluten Verhohnung des Betrachters, der in gleich welchem Kunstwerk nichts als einen blinden Fleck findet. Als Verbundeter tritt hier ein listiger Deuter in Erscheinung, der nahelegt, darin einen „Abgrund“ zu erblicken. Ajgi publiziert in den Gedichten „Ohne Titel“ klei-ne rote Quadrate (32) und fugt eine Seite „Uber den Vortrag eines Gedichts ohne Titel“ mit Noten und Angaben zur Lange der „Pausen“ hinzu, was ihn in den Rang eines Pioniers der Perfor-mance (anno 1965!) erhebt. Das liefert den nachfolgenden For-schern der Bedeutung der „Pausen“ bei Ajgi Futter (Zen-Buddhi-smus u.s.w.): „… die Leerstellen werden zu ‚Stufen’ einer kon-sequenten Versenkung in die Tiefe des Wesens: ein hartes Stuck Arbeit!“ (L. Robel) Moglicherweise sind die „Leerstellen“ just fur die Ubersetzer ein hartes Stuck Arbeit. Zum Vergleich sollten wir uns die Zeilen von W. Sokolow uber die Nachtigall in Erinnerung rufen: „Wie erstaunlich in den Pausen / die Luft fur sie singt“. Aber die Luft laßt sich nicht von jedem Sanger einspannen. Gerade außerhalb der „Pause“, außerhalb der „Leer-stelle“, dort, wo Worter stehen (d. h. wo die „Nachtigall“ singt), ist bei Ajgi noch mehr Stille gefordert als in der Leerstelle. („Stille Stellen sind die Stutzen der hochsten Sangeskraft. Sie schafft dort die Horbarkeit ab, weil sie sich nicht ertragt. Orte des Nicht-Gedankens, wenn das ‚Nein’ ver-standen wird.“) Will sagen die Stille eines nicht unausge-sprochenen Wortes, einer nicht inneren Rede, sondern gerade die Abwesenheit des Sinns, ist es, was uns als etwas „Funda-mentales“ offeriert wird.

Dieser ewige Reflex auf das Wort als die nach außen gekehrte Stille erhebt bei Ajgi Anspruch auf eine apophantische Theo-logie, was dem Philologen W. Nowikow erlaubt, Ajgi fur einen „Philosophen“ zu halten. Warum dann nicht gleich fur einen „Theologen“? Aber kann man denn wirklich viele neue literari-sche Texte zur Prasenz der Absenz oder zum Schweigen des Worts verfassen? Den Verlust der Anschaulichkeit raumt sogar Ajgi selbst auf der „Kleinen Seite mit Bekenntnis“ ein:

Es war: ich versuchte zu blicken der Einfachheit einst ins Gesicht
verstand dabei nur: daß des Worts wie des Augenlichts ich ging verloren

W. Nowikow (und hier ist er nicht nur Philologe, sondern be-reits selbst Philosoph) enthullt uns den einsamen Buchstaben (Laut) „A“, in dem sich das Gedicht Ajgis „Vokalstille“ im „ersten Augenblick der Erschaffung“ erschopft. In der gleichen „Technik“ sei auch „Gedicht-Titel: weißer Schmetterling beim Uberfliegen eines verengten Felds“ gehalten: ein leeres Blatt. Das erste wie das zweite sind „Zitate“ aus Wassilisk Gnedow (1890 – 1978), eines unbestreitbaren Vorlaufers von Ajgi, der uber ihn schreibt: „der Dichter tritt als Begrunder der ‚Anti-kunst’ in der europaischen Literatur in Erscheinung (die fran-zosischen Dichter begannen zum Beispiel bewußt von der ‚Anti-Lyrik’ … erst genau ein halbes Jahrhundert nach dem ‚antily-rischen’ Ausfall Gnedows zu sprechen)“. Bei Gnedow gibt es ein Poem aus dem einzigen Buchstaben „Ju“, und wiederum finden wir ein leeres Blatt mit dem Titel „Poem des Endes“. Bei Ajgi ist Gott ein „Zitat aus Gott“ (außerdem gibt es die „Kritzeleien eines Kindes“ und Schneeflocken sowie die „Hieroglyphen Got-tes“, Bilder, die der Schonheit nicht entbehren, daneben  den „Gott der Sinnlosigkeit“, den Nietzschejanischen „Gott ist tot“ und den „Gott gab es“ nach Kierkegaard). Hier ein wei-terer (in 43 Sprachen ubersetzter!) Text von (wie P. Grjubel meint) „ontischer Bedeutung“.

ES GIBT KEINE MAUS
Es gibt sie
18. November 1982

Wie sollte man da nicht sagen, der Berg habe wieder einmal eine Maus geboren, doch Ajgi halt sich nicht fur einen „Berg“, sondern eine „Macht“, großgeschrieben, obwohl er inwendig „karg“ sei. „Welch Macht man sein muß / um so still und ruhig zu sein wie vor dem Sturm / in dem so kargen Wesen das ich bin“ (Ohne Titel). W. Nowikow bringt uns den Text Ajgis naher, „in dem eine authentisch poetische, musikalische Antwort auf die wichtigste Frage gegeben wird, die sich unausweichlich je-dem Menschen stellt, die Frage nach dem Vorhandensein eines hoheren Sinns, die Frage nach Gott, nach Glauben und Unglau-ben“ (da haben wir ihn, den „Theologen“!):
 
wie Schnee ist was der Herr
und ist das was der Schnee
wenn auch die Seele etwas ist

der Schnee die Seele Schnee
und alles nur davon
daß die wie Tod was ist
was ist so wie sie sind

sind so sie sind und nicht
und sind es nur dadurch
doch es ist was nur ist
und Gott ist wieder Schnee

und gabe es ihn nicht
den Schnee mein Freund den Schnee
die Seele Licht und Schnee

o Gott ist wieder Schnee

und ist was Schnee was ist… (11)

Ergo hat Ajgi endlich dem (vielleicht im Schnee?) verirrten W. Nowikow und der ganzen Menschheit klar gemacht, daß es Gott gibt (und gleichzeitig „nicht“). Dieses Schillernde „es gibt“ und dann wieder „nicht“ wiederholt sich haufig bei ihm als Attribut des Traum-Textes.

W. Nowikow behauptet, hier gehe der freie Vers plotzlich in metrische Verse uber. Doch eigentlich ist Ajgis Vers ein amor-phes Bauwerk, das ich gar nicht als „freien Vers“ bezeichnen mochte. Doch hier liegt ein gewohnlicher dreifußiger Jambus vor. Das Gehor vernimmt hinter dem Metrum bekannte Zeilen, und so kam es auch Nowikow so vor, als ob „den Schnee mein Freund den Schnee“ an die Puschkin-Verse „’S ist Zeit, mein Freund, ´s ist Zeit“ erinnerte, womit sich der Autor sofort einver-standen erklarte. Mit gleichem Erfolg konnte man sich auch auf Großvaterchen Krylow beziehen: „Zur Krahe sprach einmal der Herr…“ Das Großenverhaltnis ist das gleiche, und Gott wird ebenfalls vollig „unangemessen“ ins Spiel gebracht („das Gift der literarischen Assoziationen“, wie W. Buritsch sagen wur-de). Diesen Text konnte man als „Beschworungsformel“ auffassen (man kann ihn auch vertonen, wie das S. Gubajdulina erfolg-reich getan hat), doch welchen Inhalts ist die Beschworung? Nur dergestalt, um dem Kritiker W. Nowikow „die Inspiration zuteil werden zu lassen“, wir hatten es hier mit einem Text zu tun, „dessen objektive Bedeutung die Grenzen der rein asthe-tischen Funktion uberschreitet“ (wie sehen diese Grenzen uber-haupt aus?), also mit einem sakralen Text, der auf recht un-verstandliche Weise anscheinend die „Schneehaftigkeit“ Gottes behauptet.
Ajgi „erfrechte“ sich, das Wort in seiner in Mazedonien gehal-tenen Rede in die Tradition des Johannes zu stellen, um wie ein Rechtglaubiger unter Rechtglaubigen zu wirken, indem er das profane poetische Wort hochstilisierte zum „das Wort ist bei Gott“. Doch der hl. Johannes von Damaskus lehrt: „… Da un-sere Natur dem Tod unterliegt und leicht zerstorbar ist, hat auch unser Wort weder Bestand noch Person. Gott hingegen, der immer ist und vollkommen ist, wird auch ein  vollkommenes  und hypostatisches Eigenes Wort haben…“ Wie L. Robel bezeugt, fuhlt sich Ajgi keinem bestimmten Glaubensbekenntnis zugeho-rig, d. h. er ist ein „origineller“ Heide, der Gott als Meta-pher fur Leere und Schweigen benutzt. Und dann kanonisieren die „Ajgijaner“, Leute, die kaum religios sein durften, den Autor auch noch in der Annahme, seine Texte seien wie „Psalm-artige“ aufgebaut (in seinem Lexikon finden sich auch noch Begriffe wie „Gottartige“, „Eigenartige“, „Gedankenartige“, „Windartige“) und mußten, ihrer Kraft und Bedeutung entspre-chend, gleichwertig neben heiligen Texten stehen.

Die Schweizer Kritikerin Ilma Rakusa bemerkt richtig: „Wie-derholung und Anrufung sind charakteristisch fur das Gebet, den Gesang, die Beschworung. Ajgi ubertragt ihre sakralen Funktionen auf die Lyrik, die wie eine „Priesterhandlung“ nicht die Mitteilung, sondern die Suggestion (Beschworung) zum Ziel hat.“ Und was wird wieder suggeriert? Daß der Autor ein „Hohepriester“ einer unbekannten Religion sei? „Stille“, „Schweigen“, „Feld“, „Schluchten“ als hochste Werte, die von der Große und Bedeutung des Schopfers kunden? Ein Gedicht, so-fern es gelungen ist, suggeriert: „Ich bin ein gelungenes Ge-dicht.“ Doch wenn es sich um einen „semantischen Raum“ han-delt, der verwaschen den ganzen Kosmos widerspiegelt, sug-geriert er uns eine unerklarliche Dankbarkeit fur das bloße Bemuhen des Autors. Lyrik, sogar uber Gott, ist eine weltliche Angelegenheit. Whitman, der bekanntermaßen seine Verse nach biblischem Muster verfaßte, entnahm der Bibel nur die Form, er mimte nicht den „Hohenpriester“ und blieb darum auch Dichter.

Der hl. Basilius der Große beschreibt den Psalm als ein Werk mit einem bestimmten Inhalt, der von Gott komme und als Gebet zu Gott zuruckkehre. Jeder  Psalm habe seine genaue Ausdeu-tung. Den Dichter Ajgi auszulegen, empfiehlt sich freilich nicht. Die „Ajgijaner“ versetzen unseren Autor in den gleichen Rang wie den Psalmensanger David (R. Grubel, S. 43). In den Psalmen liegt die große Wahrheit des Geistes: der richtige Ge-danke. Bei Ajgi mit seiner Stutze auf das Unbewußte gibt es keinerlei „Richtigkeit“, dafur  „sind so sie sind und nicht / und sind es nur dadurch / doch es ist was nur ist“. Eine exakt kalkulierte Unbestimmtheit.   

Ajgi bekennt, ihn habe der Impressionismus als eine Moglich-keit der außersten Subjektivitat des Kunstlers tief beein-druckt. Ob ihm da nicht wieder Kierkegaard als Beispiel dien-te? „Im danischen Konigreich lebt ganz sicher kein einziger Mensch, der uber ein solches Gefuhl fur Individualitat ver-fugt, wie ich das tue.“

„Der Prophet gilt nichts im eigenen Land“, lese ich in der russischen Presse (1993) anlaßlich der Verleihung des Pet-rarca-Preises an G. Ajgi. Danach unterhalte ich mich in Deutschland mit Karl Dedecius, dem ersten Ubersetzer Ajgis ins Deutsche. Dedecius, ein Kenner der polnischen Lyrik, hat aus dem Russischen Majakowskij ubersetzt, und dann stieß er auf den „seltsamen“ Ajgi, ubersetzte ihn und brachte ihn im großen Suhrkamp-Verlag heraus. Das Buch sei ein Ladenhuter (nichts Ungewohnliches fur Lyrik) gewesen und man ließ es „in den Reißwolf wandern“ (im selben Verlag bekam ich einmal etwas uber die Perspektiven der russischen Lyrik von der Art zu ho-ren, wozu denn andere russische Autoren nutze seien, wenn sich nicht einmal ihr bester, namlich Ajgi, verkaufe!). Zehn Jahre gingen ins Land, und wieder sei ein Ajgi erschienen, und spa-ter sei der Autor personlich angereist – in der Hoffnung auf ein Honorar. Doch Fehlanzeige: das Buch habe keiner gekauft. Darauf habe er, so erzahlt Dedecius, den gutmutigen Zbigniew Herbert(Dedecius hat ihn ubersetzt, Ajgi hat ihm Gedichte ge-widmet) und den umtriebigen Michael Kruger, den Chefredakteur des Hanser-Verlags angerufen, und man habe beschlossen, Ajgi den Petrarca-Preis zu verleihen. So offenbarte sich der „Pro-phet“ doch noch in einem Vaterland.

In Bonn mache ich die Bekanntschaft des prominenten Journali-sten Jurgen Serke. „Ein russischer Dichter sind Sie“, ruft er aus, „Gennadij Ajgi, das ist ein grandioser Dichter!“ Ich fra-ge naiv nach, was denn Ajgi so grandios mache. Der Journalist erklart darauf, der habe da so eine franzosische Lobby!

Ins Franzosische hat Ajgi Leon Robel, ein glanzender Kenner der russischen Sprache, ubersetzt. Mit Leon bin ich 1992 durch Paris spaziert. Er war zu der Zeit deprimiert wegen seines Streits mit Ajgi. Der hatte ihn „beauftragt“, ein Buch uber sich zu schreiben, aber es stellte sich heraus, daß einen ahnlichen „Auftrag“ (zur Sicherheit) auch ein anderer Autor erhalten hatte, der die Aufgabe rascher als Robel erledigt hatte, so daß seine Arbeit nun fur die Katz war. Doch gerade mal zehn Jahre spater erscheint auch Robels Buch „Ajgi“, schon ins Russische ubersetzt, mit Unterstutzung der franzosischen Botschaft und unseres ehemaligen Ministeriums fur Druckerzeug-nisse im Jahr 2003 in Moskau. Die franzosische „Lobby“ im Ver-ein mit einem Bundesprogramm, das der Kultur unser taglich Brot entzieht!

L. Robel ist es auch, der Ajgi fur den Nobelpreis vorgeschla-gen hat. Er erinnert sich in diesem Buch: „… Sein (Ajgis) lan-ger Monolog drehte sich nur um den Nobelpreis, den er zu er-halten hoffte… Es ging auch um die mogliche Bedeutung, die von der Verleihung des Preises fur sein kleines Volk ausgehen wur-de. Fur einen Moment lang war ich frappiert: sollte ihn etwa nur das interessieren…“ Doch dann besann sich Robel und ver-suchte den „ethischen Ansatz“, „das fast ethnographische In-teresse an den Tschuwaschen“ zu uberwinden, und schon wurde Ajgi in der Beurteilung L. Robels zum „einzigen, dem es ge-lungen ist, eine poetische Gedanken-Form zu finden, die am um-fassendsten den wesentlichsten Bedurfnissen der Menschheit entspricht…“. Ajgis Einstellung zu letzterer: „Ich wache auf und hor das Winseln dieser Spottlied-Menschheit.“

Entstanden ist diese Gedanken-Form aus der „alttschuwaschi-schen Kultur, der russischen Avantgarde und der franzosischen Lyrik des 20. Jahrhunderts.“ Ein unwahrscheinlicher Hybride! Die von Ajgi geleistete Ubersetzung tschuwaschischer Folklore ins Russische ist sein unstrittiges Verdienst! Doch kaum durf-te die alttschuwaschische Kultur heute noch „den wesentlich-sten Bedurfnissen entsprechen“, gleich in welch primitives Element sich die heutige Menschheit auch sturzen mag.

In Großbritannien machte ich 1992 in Edinburgh beim Slawisten Peter France halt. Er verwies darauf, daß er Ajgi ins Engli-sche ubersetzt habe, aber keinen Verlag fur das Buch finden konne. Ich fragte ihn, was den Dichter Ajgi auszeichne? Peter France antwortete: „Gennadij hat mir gesagt, daß das Volk der Tschuwaschen aussterbe, wenn er nicht den Nobelpreis erhalte.“ Schließlich gelang es France doch, Ajgi herauszubringen. Eine Reaktion auf diese Publikation erschien in der Zeitschrift „Nowyj mir“ (Nr. 9, 1997) unter dem Titel „Betruger und Betro-gener“. „Ein gewisser Colker“ aus England zitiert den Text Ajgis „O ja: Heimat“:

wie eine Pfutze war das Land
die Welt - wie eine Pfutze
dort gab es Birken-Blumen
und ein Herz-Kind

und wie diese Birken-Blumen vom Wind dieser Welt fortgeblasen

und die Schnee-Rosen
umstellten wie Engel-Bettlerinnen den Seufzer
der schweigenden Dorfler!.. – und mit ihrem Licht-Mitleid
leuchteten sie
gemeinsam

(hier hat seinen Platz das Schweigen
genau so lange
wie das unendliche Leben)…

Die Verse enden mit einem Ubergang in die „Welt-Reinheit“ (in anderen Gedichten in die „Roggen-Reinheit“, S. 218, „Welt-Kie-fern“, „Kontor-Welt“, „Schlucht-Welt“, „Hain-Welt“), was hau-fig ein Synonym fur das „Weiß“ („Absturze des Weiß“, „Odland des Daseins“) oder die Leere ist.

Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf das „Schweigen“ in Klam-mern, das den Text „andersmaßig“ macht oder ihn in die „Ewig-keit“ entschwinden laßt. J. Colker bemerkt dazu: „Das Erleben ist so alt wie die Welt selbst, den Dichtern aller Zeiten und Volker vertraut (…). Im ubersetzten Text fehlt jedes Innovati-ve, jede metaphysische Tiefe, es gibt keinen komplizierten oder ratselhaften Inhalt, wahrend alles „Irrationale“ und „Me-tagrammatikalische“ auf eine Absage an den normativen russi-schen Sprachgebrauch hinweist.“ In der Rezension Colkers taucht wieder die „Suggestion“ auf, diesmal mit Bezug auf Lew Tolstoj: „Das erste Opfer der ‚epidemischen Suggestionen’ (Lew Tolstoj) ist der Autor selbst, der vor lauter Erfolg den Kopf verliert und allmahlich nicht mehr begreift, in welcher Welt er lebt. Ajgi ist ein ausgesprochen typischer Fall solcher Op-fer. (…) Wir haben es mit einem Menschen zu tun, der betrogen hat und selbst betrogen wurde.“ Das stimmt naturlich nicht ganz, denn Ajgis Rolle ist alles andere als passiv, sondern durchaus aktiv. Im weiteren wirft Colker Ajgi Anbiederung an die „Bedurfnisse westlicher Universitatsslawisten und an den verdorbenen Geschmack des russischen literarischen Randpubli-kums“ vor. Eine andere Position nimmt J. Jewtuschenko ein: „Ajgi verliert Leser als Masse, gewinnt sie dafur in der Klas-se.“ Ihre Klasse erschopft sich leider in ihrer viel zu großen Vertrauensseligkeit gegenuber einem nicht ganz verstandlichen Autor.

„Wie hat Ajgi begonnen?“ frage ich Leon Robel. „Er sagte mir dazu, er habe ganz zu Beginn seines literarischen Wegs wie Lermontow oder Majakowskij gearbeitet…“ Nicht mehr und nicht weniger! Doch mit der Zeit habe Ajgi unter dem Einfluß von Ma-lewitsch begriffen, daß es auch noch eine hohere Lyrik gebe, als die ‚Beichte Lermontows-Majakowskijs’“, namlich „dieses Bedeutungsvolle und bisher Undefinierte, die Welt als Nebelge-stalt, ziemlich einschuchternd. Die Uberfulle dieses Mate-rials lasse sich nicht in den Rahmen einer Beichte zwangen, sie fordere vom Dichter die Bereitstellung einer Form (eines Gedichts) und gebe gleichzeitig ein Weltmodell ab, das alles auf Erden einschließe: die gegenstandliche Welt, die Natur, die philosophischen Denkgebaude, das Irrationale, das Uner-kundbare, das Unbewußte, alles zusammen. (S. 92) Was ergibt sich nun daraus? Anstelle einer Beichte eine Predigt „zu allem auf der Welt“? Offenbar genugt es schon, sich eine unlosbare (unsinnige!) Aufgabe zu stellen und seine Adepten von ihrer Losbarkeit zu uberzeugen. Und schließlich Ajgi in eigener Sa-che: „Der tschuwaschische Dichter Michail Sespel (…). Er war ein absolut genialer Dichter.“ Und etwas weiter uber die „Glut der Genialitat“: „(…) Ich glaube, daß sie in mir ist…“ (L. O., S. 19, Gesprach mit V. Coule). Und das bedeutet, gleich wie wir es anstellen: „das Weltmodell“ ist dort:

es war einmal
(die eine so
die andre so:
sagen wir:
Seele)! -

wo nur und wie nur? – sie:

wehte-bollerte: durch (oder uber)
Schlucht-oder-Klotz

Ich bekenne mich zu der Unkorrektheit des nur teilweisen Zi-tierens eines solchen Textes. Aber bis wohin muß man eigent-lich zitieren, damit der Schein der Geschlossenheit entstehe: „wo nur und wie nur“? Ajgi ist belesen. Zu den Eindrucken, die seine Personlichkeit geformt haben, zahlt er die Lekture von Nietzsche. Hat nicht vielleicht Nietzsche ihm die Idee vom „Schopfertraum“ eingegeben? „Der schone Schein der Traumwel-ten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Kunstler ist…“ (Geburt der Tragodie, S. 22)

Ajgi betont besonders die Bedeutung der Zeitspanne vor dem Einschlafen. Dann gehe der „Traum“, wie der Theoretiker der „Wirren Sprache“, Sergej Birjukow, schreibt, in „Schweigen“ uber, und in ihm vollziehe sich der „avantgardistische Versuch einer Verschmelzung von Natur und Kunst“. (S. 54). Und etwa genauer: „Mag der Versuch auch nicht gelingen (…), aber es bleibt die Kunst als Moglichkeit“, d. h. wieder mal der schone Schein der Lyrik. Freilich verband noch Gogol die sakrale Ly-rik nicht mit dem schonen Schein, sondern mit der „obersten Nuchternheit des Geistes“. Allerdings folgen wir bereits der Annahme, daß die hier untersuchte Poetik alles andere als sakral sei. Ich wurde den wolkigen Traum-Simulanten Ajgis den kontrast-klaren „Traum – 1“ von W. Buritsch entgegenstellen:

Ein gewaltiges
von Ozean zu Ozean reichendes
Wesen
liegt
ißt
Brot mit Metall

und mit noch etwas

was das Brot nicht trocken werden
das Metall nicht rosten laßt

W. Buritsch, der Begrunder des modernen russischen freien Ver-ses, rechnete sich zu den Dichtern, die „klar uber klares“ oder „klar uber dunkles“ schreiben und schonte Ajgi nicht be-sonders, den er als jemanden bezeichnete, der „dunkel uber klares und dunkel uber dunkles“ schreibt („mit dem Atem (o gib) / ein wenig verschleiern!“, S. 210). W. Buritsch schrieb uber die Naturlichkeit und Kunstlichkeit als asthetische Ka-tegorien und verglich den regelmaßigen franzosischen Park mit dem metrischen Vers und den „naturlichen“ englischen Park mit dem freien Vers. Diesen Vergleich bemuhte auch Ajgi in seinem Artikel, der in Deutschland in einer von W. Hollerer und H. Hartung herausgegebenen Publikation zur modernen Poetik er-schien. Es kommt dem Leser einigermaßen seltsam vor, daß Ajgi nirgendwo seinen verstorbenen Kollegen oder dessen Ubersetzer erwahnt. Allerdings erinnert L. Robel in seinem Ajgi-Buch an jene, „die wie Buritsch die Anerkennung des freien Verses als selbstandiges System der russischen Poetik erreicht haben.“ (S. 181) Felix Philipp Ingold hat ein Buch von W. Buritsch hervorragend ubersetzt und sogar dessen Gedichte („In den Winkel des Ellbogens hat sich das Rund des Kopfes eingeschrieben…“) in deutscher Sprache herausgebracht – so, als waren es seine eigenen (Almanach II, Lyrikfestival Mun-ster).

Ajgi wiederholt Wladimir Burtischs Gedanken zur „Mudigkeit“ und Veraltetheit von Rhythmus und Metrum: „Zu den Reimen. Sie sind schon langst ans Ende gekommen.“ (S. 169) Doch alle ub-rigen (nicht „dunklen“) Phanomene des russischen freien Verses nimmt er als „schildernd-erzahlende“ oder „geistig-rhetori-sche“ nicht an, und nach seiner Auffassung sei „der freie Vers in der modernen russischen Lyrik uberhaupt nicht ausgearbei-tet“. (S. 90) Gleichzeitig empfindet er – selbst nicht ohne Anfluge der Postmoderne – Abscheu vor den postmodernen Auto-ren: Uber „Soz-Art“ und „Cento“ (Prigow, Kibirow u. a.) ur-teilt Ajgi ohne zu wanken: „Dies ist ein Phanomen bloßer Schreiberitis, literarischer Todgeburten und von Pseudolite-ratur…“ (S. 120) Uber Jewtuschenko und Wossnesenkij  heißt es mit eingebauter Beschimpfung ihres Publikums: „Die Verse (…) sind einigermaßen mechanisch, durr und durften auf die Jugend ohne Wirkung bleiben.“ (L. P. S. 119) „Uber das Offiziose. Die russische Lyrik ist in ihrem Hauptkorpus aggressiv-konservativ und sehr schwulstig, selbstverliebt.“ (S. 169)

Entsprechend zahlen es ihm die ungeliebten Reimemacher mit gleicher Munze zuruck und meinen damit freilich gleich den freien Vers insgesamt: „Hier braucht man einen Jambus von einem Trochaus gar nicht mehr unterscheiden, - schreib im freien Vers drauf los und mach, was du willst…“ (A. Kuschner, L. G. vom 26.06.91). Doch Ajgi, den A. Kuschner in seiner Furcht vor dem Vordringen des freien Verses meinte, schreibt meist in metrischen Ensembles (in logaodischen Formen) „drauf los“, haufig auch ganz in Jamben und Trochaen, so daß man gar nicht vom freien Vers sprechen kann.

Moglich, daß Ajgi, der zweifelsfrei ein Dichter in der tschu-waschischen Sprache ist (fordern etwa die Ubersetzung Twar-dowskijs „Wassilij Terkin“ und von Lyrik aus dem Polnischen, Hebraischen und schließlich dem Franzosischen, was ihn in Frankreich beruhmt machte, keine Meisterschaft?), empfiehlt sich im Russischen weniger als Meister, sondern eher als Kamp-fer mit dem Wort, das fur ihn immer „fremd“ geblieben ist und von den unter Suggestion stehenden Lesern als „sein Wort“, als extreme Originalitat und Innovation aufgefaßt wird. „Ins Rus-sische bin ich 1960muhsam gewechselt.“ (S. 113) Auf Tschuwa-schisch schrieb er „in Reimen“, und erst im Russischen ent-schied er sich fur den freien Vers. Ist nicht vielleicht seine gesamte Lyrik eine Nachwirkung dieses „muhsamen Wechsels“? Vorauseilend nimmt Nasym Chikmet Ajgi vor dieser fremden Mei-nung in Schutz: „Man wird Ihnen nie Ihre Herkunft nachsehen.“ Gemeint ist seine „Angehorigkeit zu einem kleinen Volk“. (S. 113 R. n. R.) Doch Chikmet schrieb in seiner Muttersprache, dem Turkischen! Und da hat der Dichter Giwi Oragwelidze recht, wenn er von den „Niederlagen“ der europaischen  Lyrik am Ende des ausgehenden Jahrhunderts spricht, die sich nur noch fahig zeige, „einzig die Form ihrer Marter“ wiederzugeben. Fur ihn ist Ajgi „der erste russischsprachige Dichter, der diesen dor-nigen Weg beschritten hat… Und sein Werk erganzt das allgemei-ne Bild einer eindeutigen Krise, die in unseren Tagen die Ly-rik, am Rand des Abgrunds angesiedelt, weltweit durchmacht. Doch dieses Werk ist nicht Opfer des Abgrunds geworden.“ Hier, am Ende, scheint sich Giwi in hoheren Spharen verplaudert zu haben. Denn das Werk fiel schließlich doch dem Abgrund anheim.

Robel schreibt uber die „Verkomplizierung der Verstandigung (was auch fur die Gesellschaft insgesamt charakteristisch war)“, in deren Ergebnis „entgegen den Regeln der Grammatik und den Normen des Sprachgebrauchs“ Ajgi „eine besondere Syn-tax seiner Verse“ entwickelt habe. Doch die Sprachlosigkeit „einer Gesellschaft insgesamt“ zu postulieren, ist sogar fur die Sowjetperiode von zweifelhafter Berechtigung. Ajgi begann mit klareren Versen, die mehr sichtbare Bildhaftigkeit ent-hielten. Die Sowjetperiode mit ihrer Zensur ging zu Ende, doch der dunkle Stil Ajgis veranderte sich nicht. Mehr noch, er brachte selbst das Ende seines Werks ins Gesprach. Vielleicht muß das in dem Zusammenhang mit dem nachlassenden Interesse an der Lyrik in der Tauschgesellschaft, die tauber als eine Nuß ist, verstanden werden. Fur einen Autor, dessen Wort „a conto des dritten Jahrtausends arbeitet“ (Prof. Nowikow), ist diese Erklarung freilich entmutigend und verfruht.

Die Aufgabe Ajgis, die Geschichte der russischen Avantgarde neu zu gestalten, ist ihm voll gelungen, das ist sein unbe-strittenes Verdienst vor der russischen Literatur. Doch die Wechselbeziehung zwischen Tradition und Avantgarde zu Gunsten der „Avantgarde“ zu verandern, kann nur schiefgehen. Und wie-der wird im Vorbeigehen rasch etwas untergeschoben: „Zu seiner Zeit war auch Puschkin ein Avantgardist“, plaudert V. Quelle  mit Ajgi. „Vollig richtig“, pflichtet Ajgi bei.

Der Dichter J. Miloradwa prophezeit die Notwendigkeit einer „Stromung“, gestutzt auf Ajgi (L. Robel stimmt dem zu) und verkorpert selbst diese Stromung. Er wiederholt selbst den Kunstgriff des Zusammenwachsens der Worter (im Verein mit den Agrammatismen) bei Ajgi: „Ort der Larven-Rosen-heißen“, „die-ses – selbst – Zittern – zuteilend“, bekraftigt im Buch „Spinnrad-Engel“, Moskau, 2003, S. 112.   

Stiefel konnen so sein
oder sogar anders
und Blumen gleich wie sogar groß
und sogar violett
und sogar hinter so hohen Borten
gleich welchen ihnen
uberall

… also auch die Steine der Borten
gleich welche
   
Also konnen auch die Verse „gleich welcher Natur“ in dieser neuen Stromung sein.

Wir stimmen J. Jewtuschenko zu, wenn er in seinem Vorwort zum Ajgi-Buch schreibt: „In keinem einzigen zeitgenossischen Dich-ter hat sich der Ubergang von der Scholle zum Europaertum so wunderlich Ausdruck verschafft.“ Wenn wir jetzt noch wußten, ob die russische Lyrik uberhaupt diese Art von „Europaertum“ mit ihrem immer engeren Leserkreis braucht (verfugten etwa Puschkin oder Blok nicht daruber?). Und wer sagt uns eigent-lich, daß es in Europa keine „Scholle“ gebe?

L. Robel kann es noch so postulieren, doch wohl kaum fugt sich Ajgi mit seiner ganzen Apologie der heidnischen Avantgarde „in die Magistrallinie der russischen Lyrik ein, deren Kugel-schnittlinie durch die Punkte ‚Puschkin’ und ‚Chlebnikow’ ver-laufen“. Er fugt sich nicht ein. Aber er fugt sich auch nicht in die Avantgarde ein, hat er sich doch auch hier abgesichert: „Ich habe mich nie zur Avantgarde gezahlt und tue das auch jetzt nicht, die Sache ist schließlich viel ernsthafter.“ (L. O. im Gesprach mit V. Quelle) Die Sache ist wirklich „viel ernsthafter“. Doch wird hier vor allem das Mißverhaltnis sichtbar, das zwischen einem so unbeugsamen Glauben an die eigene Befahigung („Genialitat“), „poetisch“ eine gewisse globale kosmische Aufgabe losen zu konnen, und ihrer tat-sachlichen Losung, dem „semantischen Feld“, liegt, wo in der Wuste des „Schweigens“ auf dem Schuttplatz hochfliegender und unbedeutender Worter seltener stilistischer Flitter flimmert: „durchsichtiges Aas“ und „Strohfaule“. Dem entspricht genau das verzuckte Verklingen der Slawisten uber diesem unausge-stalteten wortlosen Worthaufen, der immerhin Mitgefuhl er-weckt, allerdings kein Verstandnis findet. 

Alle Zitate aus den Buchern: Gennadij Ajgi, Gesprach auf Distanz, Limbus-Press, St. Petersburg, 2001;
Leon Robel, Ajgi, Moskau, Agraph, Ubersetzung aus dem Franzosischen von O. Sewerskaja;
Literaturnoe obosrenie, 1998, Nr. 5-6
G. Ajgi, Hier, Sowremennik, 1991;
G. Ajgi, „Jetzt immer Schnee“, Sowjetskij pisatel, 1992

Ubersetzung: Peter Steger, 30.05.04